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Charlotte Walther – Wipplinger

Über Leben und Werk der Malerin

 von Günther Busch (1985)

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„Ich bin in einem wunderbaren, riesengroßen Garten aufgewachsen mit schönen, gewaltigen, alten Bäumen und Blumen …“ So weiß sich die Malerin Charlotte Walther – Wipplinger zu erinnern. Diese frühen Natureindrücke haben sie nicht nur ihr Leben lang begleitet, sie haben sie auch veranlasst, in ihrer Lebenswelt wie in ihrer Kunst die unmittelbare Berührung mit lebendigem Wachstum immer wieder neu zu suchen. Über alle örtlichen Veränderungen hinweg, die ihr das Geschick in überreichem Grade zugemessen hat, ist es ihr auch während längerer Aufenthalte in großen Städten gelungen, jeweils in landschaftlich geprägte Umgebungen zu gelangen, aus denen sie mittelbar und unmittelbar Anregungen für ihre Kunst gezogen hat.

1911 in Kiel geboren, hat sie von frühester Kindheit an gezeichnet – schon mit 2 Jahren, so berichteten die Eltern, hat sie die Möglichkeit des Zeichnens, des Zeichen-Setzens für sich entdeckt: ihre ersten Zeichnungen in diesem Verstande entstanden auf beschlagenen Fensterscheiben. Die Eltern förderten die offensichtliche Begabung des Kindes, des jungen Mädchens – Vater wie Mutter waren selbst künstlerisch veranlagt, musizierten und „konnten zeichnen“. Doch als die Tochter die Kunst zum Beruf machen wollte, äußerten sie anfangs Widerspruch gegen das Ungewisse, Unsolide einer rein musischen Existenz. Bald aber setzte Charlotte ihren unerschütterlichen Wunsch durch. Sie durfte zu Arthur Illies auf die Kunsthochschule Hamburg ins regelrechte Studium, das sie dann in Wien bei Fahringer fortsetzen konnte. Offenbar mehr den Eltern zuliebe, lief daneben die ganzen Semester ein Universitätsstudium in verschiedenen Fächern – Kunstgeschichte, Sprachen und Völkerkunde - , „nicht nach Plan“, sondern nach Interessen. Der vor allem vor dem Ersten Weltkrieg hochgeschätzte und weitbekannte Hamburger Maler, Graphiker und Illustrator Illies, Zeichner vor allem, scheint der Schülerin seinen allbeliebten, ornamental betonten, dekorativen Linienstil nicht aufgezwungen, vielmehr ihr Talent in Freiheit gefördert zu haben. Ähnlich scheinen es – glücklicherweise – auch ihre späteren Kunstlehrer, der Professor in Wien oder Charles Blanc, der zeitweilige Lehrer in Paris, gehalten zu haben – dieser empfahl ihr sogar ausdrücklich, an der Académie de la Grande Chaumière in den Kursus „sans professeur“ zu gehen. So fand die heranwachsende Künstlerin bald ihren eigenen Weg, ohne deshalb doch so etwas wie eine revolutionäre Außenseiterin zu werden. Offenbar stand sie gewissen modischen Aktualitäten von Anfang an eher skeptisch, prüfend, abwartend gegenüber. Ihr natürliches Zeichentalent, das sich jeden Tag neu mit der ihr begegnenden realen Natur auseinandersetzte, behütete sie vor allen Koketterien mit künstlerischen Primitivismen. Als junger Mensch aus einem Hause, in dem der Umgang mit Literatur und Musik, vor allem aber auch mit den Werken der bildenden Kunst selbstverständliches Lebenselement war, ging sie offenäugig wie durch die Natur mit ihren Bäumen, Blumen und Menschen so auch durch die Räume der Kunst, die sich ihr in Museen und Ausstellungen mehr und mehr auftaten.

Schon 1933 hatte sie in der Galerie Vignon in Paris selbst ihre erste Einzelausstellung mit spürbarem Widerhall zeigen können. Zugleich aber bewirkte diese Ausstellung in fremder Umgebung für die junge Künstlerin Distanz zur eigenen Arbeit, Selbstkritik und geschärftes Urteil. Mehrere Ausstellungen oder Ausstellungsbeteiligungen in Hamburg und eine in Hildesheim folgten. Die Familie lebte etwa ein Jahr dort. Die kleine, enge Stadt mit ihrer großartigen mittelalterlichen Architektur und der bernwardinischen Bronzeskulptur mag für Charlotte wichtige Eindrücke geboten haben – sie verschaffte ihr vor allem eine unauslöschliche Begegnung mit der Enge von Ort und Zeit: wegen ihrer Bilder, die sie arglos eingesandt hatte, wurde die erwähnte Ausstellung im Hildesheimer Kunstverein einen Tag geschlossen – „es hatte geheißen ,entartete Kunst‘, zwei meiner Bilder mussten entfernt werden … Das habe ich fast als Kompliment aufgefasst“. Eines davon war die „Leidende“, Tafel 16.

Im Jahre 1938 übersiedelte sie mit ihrer Familie nach Österreich, nach Weitenegg gegenüber Melk an der Donau, der Heimat ihres Mannes. Sie hatte schon 1933 in Paris den Niederösterreicher Evert Wipplinger geheiratet. In den dreißiger Jahren war sie mehrmals in Wien gewesen; Reisen hatten sie außerdem nach Frankreich, Italien, Ungarn, Jugoslawien und Spanien geführt. Dadurch hatte sie ihren deutschen Kollegen und Generationsgenossen in Zeiten knapper Devisen manches an Kunsteindrücken und Naturanregungen voraus. Bis zum Einmarsch der Russen im Jahre 1945 blieb die wachsende Familie in Weitenegg in der herrlichen und vielfältigen Kulturlandschaft der Wachau. Man lebte hier, länger als anderenorts, scheinbar außerhalb der aktuellen politischen Erschütterungen und dann der kriegerischen Bedrohungen der Zeit. Der Malerin gelang es jedenfalls, trotz der gern übernommenen Belastungen durch ihre Familienpflichten, bei ihrer Kunst zu bleiben, die sich weiter und weiter entfaltete. Ohne dass sie sich dazu gedrängt hätte, forderte man die Malerin zu Ausstellungen auf, Aufträge stellten sich ein.

Doch dann fielen die Bomben des Luftkriegs auch in diese zeitweilige Idylle. Plötzlich stand die Notwendigkeit vor ihr, binnen kurzem alles liegen zu lassen, um mit den Kindern vor der Invasion aus dem Osten nach Tirol zu fliehen. Fast alle bis dahin entstandenen und damals noch in ihrem Besitz befindlichen Bilder gingen so verloren.

In Tirol kamen bittere Monate des Hungers, bis im Juli der Familienvater aus amerikanischer Gefangenschaft zurückkehrte und für die Seinen wieder die Fürsorge übernahm. In Tirol fand sich indessen keine Möglichkeit, auf die Dauer eine Existenz zu gründen. Der Besitz in Weitenegg war von den Russen beschlagnahmt. So ging die Familie 1948 nach Wien, um eine neue Existenz aufzubauen. Die Malerin verdiente zeitweilig mit Sprachstunden etwas Geld, dann kamen erste Ausstellungsmöglichkeiten, unter anderem in der Galerie Würthle, und sogar gelegentliche Verkäufe – doch zeigte sich bald, dass man fünf Kinder auf dieser Basis nicht ernähren und ausbilden konnte. So beschloss man, nach Argentinien auszuwandern – in eine fragwürdige Zukunft mit fortwährenden Ungewissheiten über die materiellen Grundlagen. Und dennoch bedeuteten die drei Jahre in Südamerika (von 1955 – 1958, abwechselnd in Buenos Aires und in Rio de Janeiro) für ein Malerauge eine Fülle von neuen Augenerlebnissen in der südlichen Natur und unter südlichem Licht, nicht zuletzt aber auch bei der Begegnung mit den verschiedenen Menschentypen der Region.

Der Staatsvertrag mit Österreich eröffnete 1955 die Rückkehr nach Weitenegg. Man konnte den Besitz, soweit er noch vorhanden war, wieder an sich nehmen und das Verbliebene schrittweise wieder aufbauen und ausbauen. Dies galt zuerst für den industriellen Betrieb des Mannes, dann aber mehr und mehr für den persönlichen Lebensbereich des Hauses, die Gartenwelt mit ihren Terrassen, die die Malerin im Sinne der südamerikanischen Anregungen reich mit Blumen und Pflanzen exotischen Ursprungs anlegte und gestaltete. Die äußeren Vorbedingungen für ein kontinuierliches Fortführen des künstlerischen Schaffens waren nun gegeben, die Kinder wuchsen heran und verließen das Haus. Nach langen Jahren der Unruhe und der Ungewißheit , in denen die Malerin sich ihre künstlerische Arbeit von den verschiedenen Belastungen des Tages hatte abringen müssen, war endlich die Möglichkeit für ein konzentriertes Arbeiten gegeben. Charlotte Walther – Wipplinger hat sie genützt.

Absichtlich wurden die Bedingungen und Umstände ihres persönlichen Lebens jedenfalls in seinen Hauptzügen eingehender geschildert. Es war ein Leben mit etlichen Schwierigkeiten und Hemmnissen nicht nur äußerer materieller Art – gewiss haben es andere in jenen Jahren noch schwerer gehabt. Es war ein Leben aber auch mit etlichen, nur wenigen so gegebenen Bevorzugungen – angefangen mit dem natürlichen Talent. Ich möchte nicht missverstanden werden: ich meine keineswegs, dass sich die Kunst der Malerin und Zeichnerin aus ihrer Lebensgeschichte unmittelbar erklären oder deuten ließe. Künstlerische Entwicklungen, auch einer einzelnen Person, vollziehen sich zu gutem Teil nach Gesetzen und in Rhythmen, die weitgehend unabhängig vom zufälligen Drumherum sein können. Andererseits gibt es Anstöße, Eindrücke, Atempausen, die bisher unbewusst Vorhandenes bewusst machen, bisher Ungenutztes fruchtbar werden lassen. So mag die gestalterische Vielfalt ihres malerischen und zeichnerischen Werks, die rasch wechselnde Thematik ihrer Bilder, Aquarelle und Studien durch die verschiedenen Ortswechsel von Fall zu Fall provoziert worden sein. Es ist aber auffällig und für die Beurteilung des Schaffens im Ganzen bedenkenswert, dass gewisse künstlerische Konstanten in den verschiedenen Epochen der Produktion sich immer wieder deutlich zu erkennen geben. Die Gegenüberstellung zweier Zeichnungen aus den Jahren 1927 und 1984 (auf den Tafeln 40 und 39) mag ein charakteristisches Beispiel geben für ihre gestalterische Hartnäckigkeit, mit der sie, über Jahrzehnte hinweg, die Natur des Physiognomischen scharf und präzis erfasst hat. Gewiss, das frühe Blatt der wirklich hochbegabten damals Sechzehnjährigen zeigt typische Eigenschaften der sogenannten „neuen Sachlichkeit“ in den zwanziger Jahren: ich fühle mich etwa an vergleichbare Bleistiftzeichnungen der Hamburgerin Anita Rée erinnert. Und die „Eva“ aus dem jüngst vergangenen Jahr 1984 enthält im schwebenden Ausdruck des Gesichts und in der weicheren Handhabung des Stifts eine gewisse Weisheit und Zartheit, wie sie so wohl nur dem älteren, erfahrenen Künstlertum verfügbar siond. Dennoch lässt sich das Gemeinsame in der Menschenschilderung, dem Erspüren des Allgemein-Menschlichen in der Individualität, nicht übersehen. „Was mir wichtig war, war immer der einzelne Mensch … Der einzelne Mensch und sein Leiden …, seine Sprachlosigkeit und das Nichtverstandenwerden.“ So sagt sie selbst – und an anderer Stelle heißt es: „Am liebsten malen die Heutigen gesichtslose idann sehr bedeutsam interpretieren. Ich aber möchte gern im individuellen, dem ganz einzelnen, unverwechselbaren, nicht wiederholbaren Menschen das Allgemeingültige durchschimmern lassen.“

Wenn man mit Hilfe solcher Selbstaussagen nach und nach die Bildnisse und Menschenbilder, auch die Aktdarstellungen, der Künstlerin mit den Augen befragt (z.B. Tafel 1, 3, 8, 9, 10, 12, 15, 16, 24, 27, 30, 31, 35, 36 und ebenso die entsprechenden Zeichnungen), so wird man in der erstaunlichen Vielartigkeit der Gesichter und Gestalten wie ebenso in der überraschenden Vielfalt der jeweiligen künstlerischen Erfassung im malerischen und zeichnerischen Vorgehen, im farbigen oder linearen Gestalten ein durchgängiges Charakteristikum entdecken: ein seltenes Einfühlungsvermögen in die seelische Befindlichkeit des jeweiligen menschlichen Gegenübers. Doch bedeutet diese Fähigkeit, gleichsam in einen anderen „eintauchen“ zu können, kaum jemals ein Bemühen zur psychologisierenden „Enthüllung“ im Sinne des Expressionismus. Die Zwiesprache über die Augen vollzieht sich behutsam, nicht kritisch oder gewaltsam. Man mag dann in besonderem Maße weibliche Intuition erkennen. So wie die Selbstbildnisse der Künstlerin (gegenüber dem Titelblatt, Tafel 38, 56) oder auch die Bildnisse aus dem Familienkreis (Tafel 41, 42, 43, 44, 58, 74, 75), nicht zuletzt aber die Kinderdarstellungen (Tafel 11, 23, 59, 66-69, 71) alle etwas Gedämpftes, Wartendes besitzen, nicht das „Ausgesprochene“, sondern eher das „Verschwiegene“ meinen, so ist auch das formale Angehen jeweils leise und dem menschlichen Thema angemessen. Sie sagt selbst: „Ich male das, was mich anrührt, was mich bewegt, was mich fesselt, was sich mir aufdrängt, ich will nicht etwas Bestimmtes. Ich will keine gemalte Literatur machen. Das will ich nicht, das stört mich. Ich möchte ausdrücken, was man nicht mit Worten ausdrücken kann.“

Dieses hohe Ziel erreicht die Künstlerin als Zeichnerin, als jemand, der Zeichen „setzt“; sie erreicht es ebenso von Fall zu Fall als Malerin und dies gleichermaßen in der Öl- wie in der Aquarellmalerei. Das Verfließende ihrer Aquarelltechnik ist offensichtlich besonders geeignet, Zwischentöne des Ausdrucks zu evozieren (Tafel 24, 27, 29, 31), die besondere Stimmung einer menschlichen Situation (Tafel 28, 30) zu beschwören. Wenige, doch sehr genau gesetzte zeichnerische Akzente präzisieren darin formale oder ausdrucksmäßige Elemente. Stimmung erfüllt auch die Landschaftsaquarelle in denen sie nicht anders das Übergängliche, das Atmosphärische, in übertragener und wörtlicher Bedeutung, sucht (Tafel 32, 33). Ähnliches gilt auch für die Blumendarstellung (Tafel 29), dann ein träumerisches Empfinden an entsprechende Dinge bei Redon denken lässt, ohne dass es sich dabei um irgendeine wörtliche Übernahme aus der Kunst des Franzosen handelte. Doch wäre Charlotte Walther-Wipplinger nicht sie selbst, wenn es nicht ihre Ölbilder gäbe. Und in diesen könnte der oberflächliche Betrachter eine völlig andere künstlerische Persönlichkeit sehen wollen. Genauere Prüfung führt indessen zu anderem Ergebnis: zwar hat die Malerin hier (und von früh an!) den Mut zum vollen Einsatz der farbig-malerischen Mittel, die sie alsbald mit  Freiheit und Nachdruck zu handhaben weiß (Tafel 5-7, 8, 9). So empfindlich aber ihr Sensorium für die farbige Nuance auf alle Eindrücke reagiert, so differenziert sie die Töne zu stufen weiß: atmende, schimmernde Haut in den Aktbildern (Tafel 2, 3, 4 oder 12); so sparsam sie mit den Farbwerten umzugehen weiß, wenn es gilt, einen ganz bestimmten Ausdrucksgehalt zu versinnlichen (Tafel 16), so entschieden wagt sie die volle Leuchtkraft oder Grundfarben Rot, Gelb, Blau gegen vielfältig variiertes Grün in ihren Landschaften und Blumenbildern, darin das von ihr ausdrücklich berufene Goldgrün durchsonnten Laubes eine besondere Rolle spielt. Das Erlebnis südlichen Farblichts, Glanz und Feier der Natur, sind in diesen rasch hingeschriebenen Augenerlebnissen unmittelbar gegenwärtig, auch wenn es sich um Bilder aus dem eigenen Garten in Weitenegg handelt.

Es ist nicht einfach, aus diesem Werk, das ja noch keineswegs abgeschlossen ist, so etwas wie eine Summe zu ziehen – wenn dann eine solche Summe überhaupt nötig wäre. Wie ihre Menschenbilder im besonderen, so sind ihre Bilder überhaupt, die Ölbilder, die Aquarelle, die Zeichnungen, die figürlichen wie die landschaftlichen Darstellungen, die durchgeführten Werke (Tafel 9, 10, 36), wie die studienhaft hingeworfenen Augenblicksbeobachtungen jeweils Individualitäten, die aus sich selbst zu begreifen sind. Sie sagt selbst: „Die Natur ist unerschöpflich, immer wieder neu und anders.“ Und sie sagt: „Ich habe noch Pläne, ich möchte noch arbeiten“. Die Freunde ihrer Kunst werden es ihr danken.

…………… 

(Die im Text erwähnten Hinweise auf bestimmte Tafeln beziehen sich auf den Katalog aus dem Jahr 1985)


Prof. Dr. Günter Busch,

geboren 1917 in Bremen, gestorben 2009 ebenda. Deutscher Kunsthistoriker und langjähriger Direktor der Kunsthalle Bremen. Er war eine herausragende Persönlichkeit, die die Kunsthalle in Bremen nachhaltig geprägt hat, mit Schwerpunkten internationale europäische Kunst des 20. Jhdts, Handzeichnungen und Druckgraphik.